»Der Tag der Revolution ist gekommen. Wir haben den Frieden erzwungen.
Der Friede ist in diesem Augenblick geschlossen. Das Alte ist nicht mehr. Die
Herrschaft der Hohenzollern, die in diesem Schloß jahrhundertelang
gewohnt haben, ist vorüber. In dieser Stunde proklamieren wir die freie
sozialistische Republik Deutschland. Wir grüßen unsere russischen
Brüder, die vor vier Tagen schmählich davongejagt worden sind.«
Liebknecht wies dann auf das Hauptportal des Schlosses und rief mit erhobener
Stimme: »Durch dieses Tor wird die neue sozialistische Freiheit der
Arbeiter und Soldaten einziehen. Wir wollen an der Stelle, wo die
Kaiserstandarte wehte, die rote Fahne der freien Republik Deutschland
hissen!« |
Die Soldaten der Schloßwache, die auf dem Dach sichtbar waren,
schwenkten die Helme und grüßten zur Menge herab, die auf das Tor
zudrängte. Es wurde langsam geöffnet, um dem Automobil Liebknechts
Einlaß zu gewähren. Die Menge wurde davon zurückgehalten, zu
folgen. Nach einigen Minuten erschienen, von der Menge stürmisch
begrüßt, die Soldaten der Schloßwache ohne Waffen und
Gepäck. Kurze Zeit darauf zeigte sich Liebknecht mit Gefolgschaft auf dem
Balkon, von dessen Grau sich eine breite rote Decke abhob. |
»Parteigenossen«, begann Liebknecht, »der Tag der Freiheit
ist angebrochen. Nie wieder wird ein Hohenzoller diesen Platz betreten. Vor 70
Jahren stand hier am selben Ort Friedrich Wilhelm IV. und mußte vor dem
Zug der auf den Barrikaden Berlins für die Sache der Freiheit Gefallenen,
vor den fünfzig blutüberströmten Leichnamen seine Mütze
abnehmen. Ein anderer Zug bewegt sich heute hier vorüber. Es sind die
Geister der Millionen, die für die heilige Sache des Proletariats ihr
Leben gelassen haben. Mit zerspaltenem Schädel, in Blut gebadet wanken
diese Opfer der Gewaltherrschaft vorüber, und ihnen folgen die Geister von
Millionen von Frauen und Kindern, die für die Sache des Proletariats in
Kummer und Elend verkommen sind. Und Abermillionen von Blutopfern dieses
Weltkrieges ziehen ihnen nach. Heute steht eine unübersehbare Menge
begeisterter Proletarier an demselben Ort, um der neuen Freiheit zu huldigen.
Parteigenossen, ich proklamiere die freie sozialistische Republik Deutschland,
die alle Stämme umfassen soll, in der es keine Knechte mehr geben wird, in
der jeder ehrliche Arbeiter den ehrlichen Lohn seiner Arbeit finden wird. Die
Herrschaft des Kapitalismus, der Europa in ein Leichenfeld verwandelt hat, ist
gebrochen. Wir rufen unsere russischen Brüder zurück. Sie haben bei
ihrem Abschied zu uns gesagt: >Habt Ihr in einem Monat nicht das erreicht,
was wir erreicht haben, so wenden wir uns von Euch ab.< Und nun hat es kaum
vier Tage gedauert.« |
»Wenn auch das Alte niedergerissen ist«, fuhr Liebknecht fort,
»dürfen wir doch nicht glauben, daß unsere Aufgabe getan sei.
Wir müssen alle Kräfte anspannen, um die Regierung der Arbeiter und
Soldaten aufzubauen und eine neue staatliche Ordnung des Proletariats zu
schaffen, eine Ordnung des Friedens, des Glücks und der Freiheit unserer
deutschen Brüder und unserer Brüder in der ganzen Welt. Wir reichen
ihnen die Hände und rufen sie zur Vollendung der Weltrevolution auf.
Wer von euch die freie sozialistische Republik Deutschland und die
Weltrevolution erfüllt sehen will, erhebe seine Hand zum Schwur (alle
Hände erheben sich und Rufe ertönen: Hoch die Republik!). Nachdem der
Beifall verrauscht war, ruft ein neben Liebknecht stehender Soldat und schwenkt
die rote Fahne, die er in den Händen trägt: »Hoch lebe ihr
erster Präsident Liebknecht!« |
Liebknecht schloß: »Soweit sind wir noch nicht. Ob
Präsident oder nicht, wir müssen alle zusammenstehen, um das Ideal
der Republik zu verwirklichen. Hoch die Freiheit und das Glück und der
Frieden!« |
Bald darauf wurde an dem Mast der Kaiserstandarte die rote Fahne
gehißt. |
Vossische Zeitung Nr. 576 vom 10. 11. 1918 |
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