"War das, was sich in Deutschland um den Jahreswechsel 1918/19 abspielte, wirklich eine Revolution?"
Dies ist die heute in Verbindung mit diesem Thema wohl am häufigsten gestellte Frage, die schon häufig im Titel der Bücher auftaucht, die sich mit der "Novemberrevolution" beschäftigen.
Wenn man eine "Umwälzung" oder "Umdrehung", vom lateinischen "revolvere", wie die Enzyklopädie Brockhaus als "totaler Bruch mit der politischen-sozialen Ordnung" definiert, dann waren die Geschehnisse im Herbst 1918 alles andere als eine "Revolution":
Sämtliche Staatssekretäre, Abgeordnete, Beamte und hohe Militärs blieben nach dem 9.November in ihren Ämtern - kein totaler Bruch.
Zur parlamentarischen Demokratie wurde Deutschland erst im August 1919 durch die von der Nationalversammlung ausgearbeitete Verfassung und parlamentarische Monarchie mit sehr vielen demokratischen Elementen war es bereits im Oktober 1918 durch die verschiedenen Reformen geworden - kein Bruch.
Erzberger war bereits Tage vor den Aufständen in Berlin zu den Waffenstillstandsverhandlungen nach Compiègne gereist und das Gesuch um Frieden war schon einen Monat zuvor erfolgt - ein recht glatter Verlauf.
1925 wurde sogar Hindenburg zum Reichspräsidenten ernannt und Tausende strömten ab Dezember 1918 in die Freikorps - höchstens ein schnell zusammenwachsender Riss.

Aber war es für die weitere politische Entwicklung Deutschlands wirklich ohne Bedeutung gewesen, dass in der ersten Novemberwoche 1918 Millionen von Menschen in Deutschland auf die Straße gegangen waren?
Nein. Sie hatten dafür gesorgt, dass der sich schon seit einiger Zeit vollziehende Demokratisierungsprozess einen schnelleren Verlauf nahm bzw. überhaupt zu einem Ende kam. Wer weiß, wie lange man die Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrages noch hinausgezögert hätte, ob die Kaiserregierung von sich aus zu weiteren Parlamentarisierungsschritten nach der Oktoberreform bereit gewesen wäre oder ob sich die Arbeitgeber und Arbeitnehmer ohne den äußeren Druck so schnell auf weitere Rechte für die Arbeiter geeinigt hätten ???

Die Menschen in Deutschland hatten im November 1918 aus der reinen Not heraus gehandelt und dem alten System mit ihrem Selbsterhaltungsschlag einen Stoß versetzt, dem es nicht ohne Verletzungen ausweichen konnte.
Diese Verletzungen waren die Abschaffung der Monarchie und damit die des Militarismus, die Friedensbedingungen der Alliierten und die Radikalisierung vieler Sozialisten.

Die Verletzungen sollten als Narben zurückbleiben, die manchem Deutschen solche Schmerzen bereiteten, dass er sie nur durch die 15 Jahre später stattfinden Gräueltaten stillen konnte und so die Nationalsozialisten ihre menschenverachtende Politik als "Wiedergutmachung" für die Folgen der Novemberrevolution proklamieren konnten.

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